Sich stärken, um Inklusion voranzutreiben
Veröffentlicht am Sonntag, 24. Februar 2019 von Susanne Göbel
Lobbach (kobinet) Eigene Möglichkeiten und Potenziale nutzen, um sich für die Stärkung der Rechte von Menschen mit Behinderungen einzusetzen. Das ist das Ziel einer Weiterbildung des Zentrums selbstbestimmt Leben (ZsL) Stuttgart. Da vier Inklusionsbotschafter*innen an dieser Weiterbildung teilnehmen, hat die Projektkoordinatorin des Inklusionsbotschafter*innen-Projektes der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL), Susanne Göbel, für die kobinet-nachrichten folgendes Interview mit den Inklusionsbotschafter*innen über ihre Mitwirkung an der Weiterbildung und ihr Wirken geführt.
Interview, geführt von Susanne Göbel
kobinet-nachrichten: Letztes Wochenende fand das zweite von fünf Weiterbildungswochenenden des Zentrum selbstbestimmt Leben behinderter Menschen (ZSL) Stuttgart statt. Ziel der Weiterbildung ist es, Ihre eigenen Möglichkeiten und Potenziale zu nutzen, um sich für die Stärkung der Rechte von Menschen mit Behinderungen einzusetzen. Was reizt Sie an dieser Weiterbildung?
Elisabeth Heinz-Günther: Mich reizt an dieser Weiterbildung, dass die Menschen hier alle beeinträchtigt sind, dass wir jung und alt sind, dass die Vielfalt schon in der Gruppe gegeben ist. Es ist für mich bereichernd. Ich mache eine weitere Inklusionsausbildung und das ist wie Tag und Nacht. Im Vergleich zu anderen Ausbildungen ist das hier fundierter. Dort bin ich die Einzige mit Behinderung.
Ellen Keune: Weiterbildungen von und mit Menschen mit Behinderungen finde ich immer empowernd. Zusätzlich haben mich die Inhalte der Weiterbildung, wie zum Beispiel das Stimmtraining, sehr interessiert.
Ulla Kenntner: Die Weiterbildung ist eine hervorragende Möglichkeit, meine rhetorischen Fähigkeiten zu verbessern, um mich damit auf Gremienarbeit oder meine Tätigkeit als Referentin vorzubereiten.
Rose Liebler-Merz: An dieser Weiterbildung reizt mich die Auseinandersetzung mit Menschen, die wie ich von Behinderung betroffen sind. Die Begegnungen auf Augenhöhe, das gegenseitige Stärken und Ermutigen, sowie das Erlernen des notwendigen Handwerkszeug lässt mich meine Vision von gelebter Teilhabe weiter gestalten
kobinet-nachrichten: Behinderte Menschen erleben nach wie vor, dass ihre Rechte missachtet werden. Welche Rechte sind Ihnen besonders wichtig und wo tut Ihres Erachtens Stärkung besonders Not?
Elisabeth Heinz-Günther: Barrierefreiheit ist bisher nicht gegeben, zum Beispiel im öffentlichen Raum und öffentlichen Verkehr. Und ich finde, dass man die Beschäftigungspflicht von Schwerbehinderten im Gesetz angleichen muss. In der Realität gibt es sehr viel mehr behinderte und chronisch kranke Menschen als die fünf Prozent, die im Gesetz stehen. Offiziell heißt es immer zehn Prozent der Gesellschaft haben eine Behinderung oder chronische Krankheit. Ich finde viel mehr Arbeitsstellen sollten mit behinderten und chronisch kranken Menschen besetzt werden und das muss im Gesetz stehen. Wohlfahrtsträger sollen die Verpflichtungen genauso erfüllen müssen, wie die Wirtschaft. Die Kirchen dürfen sich nicht freikaufen können durch die Werkstätten für behinderte Menschen, die sie betreiben. Kein Freifahrtschein nur weil man Werkstatt-Träger ist.
Ellen Keune: Kommunikation ist die Grundlage von Inklusion. Deshalb finde ich, dass in nächster Zeit ein Fokus auf Kommunikation gelegt werden sollte.
Ulla Kenntner: Umfassende Teilhabe wird durch äußere Bedingungen wie Barrierefreiheit im öffentlichen Raum und Verkehr sowie den finanziellen Ressourcen der Betroffenen ermöglicht oder begrenzt. Nach Rürup und Riester fordere ich die Kenntner-Rente. Mein Konzept sieht vor, nach Schweizer Vorbild, den Fall der Invalidität ab dem Zeitpunkt der Geburt über eine Solidarkasse/Sozialversicherung abzusichern. Nach dem Ansatz von Bismarck zum Sozialversicherungssystem sind die sogenannten Wechselfälle des Lebens, Krankheit, Tod, Arbeitslosigkeit und Invalidität sowie die daraus entstehenden Lasten über Solidarkassen abzusichern. Warum wir ab Geburt zwar für den Fall der Krankheit, nicht aber für den Fall anhaltender Assistenzbedürftigkeit abgesichert sind, ist für mich nicht nachvollziehbar. Nach wie vor, trotz Bundesteilhabegesetz, überlässt der Staat dieses Lebensrisiko den Betroffenen, deren Eltern und deren Kindern.
Rose Liebler-Merz: Bildung ist eine weitere Grundlage von Inklusion. Unsere Bildungseinrichtungen, wie Kindertagesstätten und Schulen, sind die Zukunftswerkstätten unserer Gesellschaft, die dringend Unterstützung zur Umsetzung der Inklusion benötigen.
kobinet-nachrichten: Jede von Ihnen ist auch Inklusionsbotschafterin eines von der Aktion Mensch Stiftung geförderten Projektes der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) und Sie setzen sich für unterschiedliche Projekte im Zusammenhang mit Inklusion ein. Wo sehen Sie Ihre persönlichen Stärken und in welchen Zusammenhängen bringen Sie diese bereits ein?
Elisabeth Heinz-Günther: Meine persönlichen Stärken sind Netzwerken, Entscheidungsträger auf die fehlende Barrierefreiheit anzusprechen und die Umsetzung von Barrierefreiheit zu fordern. Ich verbreite gerne Informationen über Inklusion. Außerdem bin ich dabei, eine Selbsthilfegruppe aufzubauen. Und dank der Weiterbildung vom ZSL Stuttgart wage ich mich langsam an mein größtes Projekt. Es heißt „Von Anfang an dabei“. Ich will Mütter- und Familienzentren beraten und ermutigen, sich auch endlich für behinderte Menschen zu öffnen. Die anderen in der Weiterbildung haben mich ermutigt und mir gesagt, dass es ein wichtiges Thema ist.
Ellen Keune: Meine Kreativität und die Freude daran, Wissen weiterzugeben, setze ich jetzt schon zum Beispiel in Empowerment-Kursen ein. Dabei hilft es mir auch sehr, schnell die Stärken anderer wahrzunehmen.
Ulla Kenntner: Meine besondere Stärke ist meine Hartnäckigkeit im Umgang mit öffentlichen Stellen. Der Kreis Heidenheim in Outback-Württemberg hätte ohne eine gewisse Nachhilfe mit Sicherheit noch nicht mal einen hauptamtlichen Beauftragten für Menschen mit Behinderungen berufen. Nun versuche ich die nun seit einem Jahr bestellte Behindertenbeauftragte bei der Einrichtung eines Beirats für Menschen mit Behinderung zu unterstützen. Des Weiteren bin ich dabei, mit Gleichgesinnten eine regionale Krüppelgruppe zu gründen.
Rose Liebler-Merz: Begegnungen ermöglichen, Räume für Begegnungen schaffen, dafür setze ich meinen Einfallsreichtum, meine Offenheit und mein Interesse am Menschen ein. Junge Menschen für die Inklusion zu begeistern, innere Barrieren abzubauen, das gelingt mir bei Besuchen in sozialen Projekten an Schulen und in der Jugendarbeit.
kobinet-nachrichten: Als Inklusionsbotschafterinnen erleben Sie Herausforderungen, können aber auch Erfolge feiern. Über welchen Erfolg haben Sie sich sehr gefreut, bzw. welcher hat Sie persönlich besonders berührt?
Elisabeth Heinz-Günther: Was mich letztes Jahr wirklich erfreut hat war, dass unsere Selbsthilfegruppe stabiler wird und an die 100 Leute zu einer Veranstaltung unserer Selbsthilfegruppe gekommen sind, und das im ländlichen Raum!
Ellen Keune: An der evangelischen Hochschule Ludwigsburg haben wir angefangen, während der Vorlesungszeit Barrieren des Monats zu küren. Dabei haben wir nicht nur auf die Barrieren an der Hochschule hingewiesen, sondern auch erreicht, dass sich andere Hochschulgruppen Gedanken über ihre eigenen Vorurteile und Hürden machen. Inzwischen kommen sie auf uns zu und fragen, wie sie zum Beispiel Veranstaltungen barrierearm gestalten können. Ich hätte nie gedacht, dass wir jemals so viel Sensibilität erreichen.
Ulla Kenntner: Mein bislang größter Erfolg ist es, DB Regio zur Einhaltung der verkehrsvertraglichen Pflichten, insbesonders des Transports von Rollstuhlfahrern, ermuntert (gezwungen) zu haben. So muss zum Beispiel DB Regio Ulm Rollifahrern, soweit kein verlässlich barrierefreier Stundentakt-Verkehr geleistet wird, einen Ersatzverkehr mit Rollstuhltaxi organisieren und bezahlen.
Rose Liebler-Merz: Meine Tätigkeit als Inklusionsbotschafterin führte mich in eine Gemeinschaftsschule. Durch meinen Besuch gelang es der Lehrerin bei den Jugendlichen das Interesse für das Thema Inklusion zu wecken. Es war für mich sehr eindrücklich wahrzunehmen, mit wie viel Aufmerksamkeit und Interesse die Jugendlichen Fragen zu meinem Leben stellten. Es hat mich sehr berührt, welche Rückmeldungen eine Woche später im Unterricht bei der Lehrerin ankamen. Schüler*innen, die an diesem Nachmittag fehlten, äußerten den Wunsch, mit mir in Kontakt treten zu wollen.
kobinet-nachrichten: Beim letzten Weiterbildungswochenende ging es schwerpunktmäßig um das Thema „Stimme und Auftreten: selbstbewusst und souverän“. Was nehmen Sie für sich und Ihre Arbeit mit?
Elisabeth Heinz-Günther: Wir haben Übungen gemacht und es auf Video aufgenommen. Und davon habe ich mitgenommen, dass ich viel zu leise bin. Ich habe es im Video gesehen, aber ich kann das noch immer nicht glauben: „Wie bitte, ich leise.“ Ich kann es mir nicht richtig erklären, daran will ich noch stark arbeiten.
Ellen Keune: Ich nehme mit, dass ich Menschen, die ich erreichen möchte, in Zukunft möglichst oft mit Herz begegnen werde. Bei Kommunikation geht es nicht nur um den Inhalt, sondern auch um die Haltung, mit der dieser Inhalt transportiert wird.
Ulla Kenntner: Die Weiterbildung hat mir den Schneid gegeben, künftig meine Arbeit in der Öffentlichkeit zu meistern.
Rose Liebler-Merz: Von diesem Baustein nehme ich mit, dass ich es mir selbst erlaube, mich dem anderen Menschen mit meiner Einzigartigkeit zuzuwenden. Ich erreiche die Menschen mit meiner Herzlichkeit und Wärme am besten.
kobinet-nachrichten: Wagen wir einen Blick in die Zukunft: Ihre Weiterbildung endet im Oktober 2019. Im Anschluss sollen Sie als Referentinnen bei Fort- und Weiterbildungen, in Einrichtungen der Behindertenhilfe sowie in Bildungseinrichtungen, Verwaltungen und bei freien Trägern aktiv werden. Über welche erste Anfrage zu welchem Thema und für welche Teilnehmer*innen würden Sie sich am meisten freuen? Welche Anfrage würde Ihr Herz besonders erwärmen?
Elisabeth Heinz-Günther: Eine Anfrage von Mütterzentren oder Familienzentren aus Süddeutschland. Ich würde sie gerne zum Thema „Von Anfang an dabei“ schulen: was können solche Zentren machen, damit Eltern und Kinder mit Behinderungen von Anfang an und an ihrem Wohnort dabei sein können.
Ellen Keune: Ich freue mich jederzeit über Empowerment-Trainingsanfragen für Menschen mit Behinderung. Bei mir persönlich gibt es schon eine erste freudige Neuigkeit zu berichten: Durch den Inklusionsbotschafterinnenkontakt zu Rose habe ich eine Anfrage bekommen, ein Seminar zum Thema Inklusion an einer Hochschule durchzuführen. Studierenden von Inklusion in Bezug auf Behinderung erzählen zu dürfen, darauf freue ich mich besonders.
Ulla Kenntner: Gerne würde ich zu und mit Vertretern der Unternehmen des Öffentlichen Personennahverkehs (ÖPNV) und des Schienenpersonennahverkehrs (SPNV) sprechen. Zudem möchte ich Schulleiter von Grund- und weiterführenden Schulen ermutigen, ihre Schulgebäude barrierefrei umzubauen.
Rose Liebler-Merz: Über eine Anfrage aus der pädagogischen Arbeit, aus dem Bereich der Aus- und Fortbildung für Erzieherinnen würde ich mich am meisten freuen. Insbesondere die Mischung aus pädagogischer Berufserfahrung und persönlicher Betroffenheit als Mensch mit Behinderung wird die Diskussion um viele Facetten bereichern und aufzeigen, welche Faktoren zum Gelingen beitragen. Über eine Anfrage meiner Ausbildungsstätte würde ich mich besonders freuen. Schließlich hat sie bereits im Jahr 1977 mir den Weg zu gelebter beruflicher Teilhabe ermöglicht. Gerne würde ich dorthin etwas zurückgeben.
kobinet-nachrichten: Vielen Dank für das Interview.